Reisebericht von Dirk Weissleder, Vorsitzender der DAGV und AGT-Mitglied
Das große Land im Norden feiert heuer 500 Jahre Bestehen als neuzeitlicher Staat, nachdem man im Juni 1523 Gustav Wasa zum König wählte und aus der Kalmarer Union mit Dänemark und Norwegen ausschied. 500 Jahre später, 2023 ist das Land weiterhin eine Monarchie (allerdings mit stark republikanischen Zügen) und zählt rund 10,5 Millionen Einwohner.
Nicht das Jubiläum, wohl aber der jährliche Schwedische Genealogentag war der Grund, nun endlich eine seit Jahren bestehende Einladung des Schwedischen Dachverbandes anzunehmen und sich selbst einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Das gegenseitige Interesse in beiden Richtungen ist groß, gab es doch über Jahrhunderte regen Austausch zwischen beiden Ländern, was sich eben auch genealogisch niederschlägt. Ein beachtlicher Teil der schwedischen Bevölkerung verfügt über deutsche Vorfahren.
Ziel des gemeinsamen Besuches mit Christian Kirchner war der Schwedische Genealogentag (släktforskardagarna, eigentlich Familienforschertage) vom 26. bis 27. August 2023 in Östersund in der mittelschwedischen Provinz Jämtland. Im wunderschönen Östersund (gesprochen, wie man es auf Deutsch liest, im Dialekt Österschund) leben rund 50.000 Einwohner, das Wappen der Stadt zeigt einen silbernen Elchkopf auf blauem Hintergrund. Man ist hier inmitten der Natur.
Als Veranstaltungsort diente das sog. Folket Hus (Volkshaus), in dem sich große und kleine Vereinigungen mit ihren Forschungsarbeiten und Publikationen an Ständen oder in Form äußerst gut besuchter Vorträge präsentierten. Die DAGV hatte gemeinsam mit unserem Mitglied g-gruppen, AGoFF, AGT und Archion einen „deutschen“ Gemeinschaftsstand (im Programmheft: Stand V106 g-Gruppen, Tyskland), der auch gut frequentiert wurde.
Im Gebäude war der Andrang zumeist so groß, dass man froh war, außerhalb des Gebäudes mit Essen (auch auf rustikalem Grill) versorgt zu werden bzw. kleinere Handwerkswaren zum Kauf angeboten zu bekommen. Die Zusammenkunft der Genealogen in Östersund war etwas kleiner und wich damit von der üblichen Teilnehmerzahl von bis zu 5.000 Besuchern ab, was aber nicht weniger Interesse und Engagement bedeutete. Die Gespräche an den einzelnen Ständen entwickelten sich problemlos, wobei das Auslegen von Süßigkeiten ein hervorragender Anlass ist, nach dem Zugreifen tatsächlich unaufgeregt und in aller Ruhe miteinander zu sprechen. Dies gefiel dem Beobachter äußerst gut. Ebenso die vielen Trachten aus unterschiedlichen Gegenden des Königreichs.
In Östersund selbst kam es zu einem wirklich langen, intensiven und herzlichen Gespräch mit der Vorsitzenden des Schwedischen Dachverbandes, Viktoria Jonasson sowie ihrer Stellvertreterin Chris Bingefors, das mit Hilfe von Christian Kirchner nicht nur auf Englisch, sondern auch auf schwedisch geführt wurde. Vereinbart wurde hierbei nicht nur ein intensiver Austausch beider Seiten, sondern es wurde die Absicht unterstrichen, bereits Vorhandenes zusammenführen zu wollen, denn bereits heute liegen fantastische Quellenauswertungen und Dokumentationen vor, die jedoch auf der jeweils anderen Seite noch unbekannt sein dürften. Ein riesiges Universum frei zugänglicher digitalisierter Quellen aus dem ganzen Land (beispielsweise via AktivDigital) ist problemlos nutzbar, doch auch hier gibt es „Gebirge von Quellen“, die noch gar nicht erschlossen sind.
Weitere Gesprächsthemen waren u.a. die unterschiedlichen Einschätzungen der öffentlich frei zugänglichen Nutzung personenbezogener Daten (hingewiesen sei auf die Veröffentlichung aller seit 1830 in Schweden gestorbenen Personen im „Totenbuch 2022“, bei uns komplett undenkbar!) sowie die Bedeutung von DNA-Genealogie. Bezüglich personenbezogener Daten beginnt in Schweden wohl durch Sorge um kriminellen Missbrauch von Informationen ein gewisses Umdenken, aber noch trennen hier Schweden und Deutschland diesbezüglich Welten.
Die An- und Abreise verlief jeweils mit dem Flugzeug über Stockholm, so dass beide DAGV-Vorstandsmitglieder die Chance dazu nutzten, sowohl die beeindruckende Bibliothek der Genealogiska Föreningen (Genealogischen Vereinigungen) mit über 30.000 Titeln (davon über 5.000 deutschsprachige) auf 160 Regalmetern zu besichtigen und Dank des Fahrdienstes von Hans-Dieter Grahl, dem Vorsitzenden des DAGV-Mitgliedsvereins g-gruppen, wie auch zwei Abteilungen des Reichsarchivs zu besichtigen.
Im Kriegsarchiv Arninge-Täby wurden wir von zwei äußerst engagierten Archivarinnen auf den großen Bestand deutschsprachiger resp. Deutschland betreffender Quellen hingewiesen. In dem über 210 Regalkilometern umfassenden Teilarchiv liegen allein etwa 1.600 Karten zu deutschen Städten, v.a. aus Nord- und Nordostdeutschland von Bremen bis Ostpreußen.
Besondere Erwähnungen verlangen zwei einzigartige Museen in Stockholm, deren Bedeutung über den Tag und jede touristische Bedeutung hinausstrahlen: Zum einen das 1990 eröffnete VASA-Museum, das um das 1961 gehobene größte schwedische Kriegsschiff des 17. Jahrhunderts namens Vasa herumgebaut wurde. Das am 10. August 1628 im Hafen von Stockholm gesunkene Meisterwerk steht heute in einer Größe von sieben Stockwerken mit 98% aller Originalteile imposant inmitten des modernen Museumsbaues und erlaubt fast eine Berührung dieses archäologischen Giganten. Das Museum verbindet die Baugeschichte der Vasa mit neuesten Erkenntnissen der DNA-Forschung und Rekonstruktion des vermeintlichen Aussehens von Skelettfunden an Bord des nach 333 Jahren geborgenen Kriegsschiffes und Stolz der schwedischen Flotte, denn nicht nur Männer, sondern auch Frauen waren an Bord.
Geschichte und Forschungen zugleich sollen Menschen begeistern. Und dies ist zweifellos bei einem mehrstündigen Aufenthalt ohne Unterlass der Fall. Im Besucherprospekt heißt es dazu: „Die Schiffshalle fungiert als gigantischer Museumsschaukasten für den größten archäologischen Schiffsfund der Welt – ein Schaukasten, der zusätzlich Platz für 2.000 Menschen bietet.“
Ein Museum ganz anderer Art ist das auf einem Steilhügel der Insel Djurholm gelegene 1891 eröffnete älteste Freilichtmuseum der Welt mit dem Namen Skansen (dt. Schanzen). Hier reichen wenige Stunden nicht aus, sich auch nur einen Überblick über diese aus allen Teilen Schwedens zusammengetragene Häuser und Höfe zu verschaffen. Mindestens einen ganzen Tag braucht man, um sich auf diese historische Vielfalt einzulassen und mit den in historischen Gewändern agierenden „Bewohnern“ eines Städtchens um 1750 oder in den unterschiedlichen Gebäuden ins Gespräch zu kommen. Es ist nichts Geringeres als eine fantastische Reise durch Schweden im geographischen Miniaturformat, wobei sogar Wildtiere gesichtet werden können. Die Idee zur Eröffnung dieses einzigartigen Freilichtmuseums entsprang der damals modernen Rückbesinnung auf alte Traditionen und Bräuche der bäuerlichen Kultur, die zugunsten der modernen Industrielandschaften zu verschwinden begann. Es ging insbesondere darum, Gegenstände und Zeitzeugnisse für kommende Generationen zu bewahren.
Der schwedische Genealogentag in Östersund, aber auch die erwähnten beiden Museen in der Hauptstadt gaben dem Besucher wertvolle Anregungen und tolle Denkanstöße zur Vermittlung und Präsentation eines Zugangs zur Geschichte.
Fazit: Schweden ist anders, etwas sehr teuer, aber wunderschön. Letzteres zeigte sich u.a. auf der Mälar Victoria, einem Ausflugsschiff, durch die Schären rund um Stockholm. Ein Land mit Verständnis für Traditionen, aber auch der sichtbaren Fähigkeit, Alt und Neu zu verbinden und die Bedeutung von historischem Wissen zu vermitteln.
Aus den Gesprächen mit dem schwedischen Dachverband verbinden beide DAGV-Vorstandsmitglieder (sowie AGT-Mitglieder) die realistische Hoffnung, langfristig ein aktives Genealogennetzwerk des Ostseeraumes zu etablieren, in dem wir neue Wege für Kontakt und Austausch gehen werden. Ein Wiedersehen der schwedischen Genealogen findet statt auf dem landesweiten Genealogentag vom 24. bis 25.August 2024 in Malmö.